Für Analysten ist Nestlé ein sicherer Hafen
Von Martin Dunzendorfer,
Frankfurt
Der Kurs der Nestlé-Aktie hat am Donnerstag um 0,4% nachgegeben. Der Gedanke liegt nahe, dass Anleger enttäuscht auf die Vorlage der Halbjahreszahlen reagierten. Das ist zum Teil auch richtig, denn die Voraussage der operativen Marge im laufenden Jahr, für die zuvor eine Spanne von 17,0 bis 17,5% genannt worden war, wurde auf das untere Ende, also 17%, eingegrenzt. Doch der gestrige Kursrücksetzer dürfte nur ein kurzfristiger, noch dazu überschaubarer gewesen sein, da der größte Lebensmittelkonzern der Welt zum einen die Umsatzprognose für 2022 angehoben und zum anderen im ersten Halbjahr mit nahezu allen von Marktakteuren beachteten Kennzahlen die Konsensschätzungen der Analysten übertroffen hat. Es war also keineswegs ein enttäuschender Zwischenbericht, den der Schweizer Markenanbieter (u. a. Nescafé, Nespresso, Vittel, Kitkat, Maggi, Schöller, Purina) präsentiert hat.
Vorsichtiges Margenziel
Das in Anbetracht der übrigen, meist positiven Zahlen etwas magere Margenziel für dieses Jahr ist daher als vorsichtige Vorgabe einzuordnen. Nach den ersten sechs Monaten lag die bereinigte operative Rendite bei 16,9% und damit zwar oberhalb der durchschnittlichen Analystenschätzung von 16,6%, aber eben auch um 60 Basispunkte unter dem oberen Ende der bislang kommunizierten Zielspanne. Zudem droht bei weiterer Verschlechterung des makroökonomischen Umfeldes eine Kaufzurückhaltung der Verbraucher.
Die gestrige Kursschwäche muss aber auch in Beziehung zur Performance in den vergangenen Wochen gesehen werden: Seit Juni ist der Konzernwert stärker gestiegen als marktbreite Benchmarks oder Blue-Chip-Indizes für Europa. Der Kurs liegt derzeit knapp 13 sfr unter dem Rekordhoch von 129,80 sfr, das gleich zu Beginn des Jahres erreicht worden war. Die Marktkapitalisierung von Nestlé beträgt umgerechnet rund 324 Mrd. Euro; damit ist der Konsumgüteranbieter der schwerste Wert in Europa.
Nestlé schafft es seit vielen Jahren, selbst auf gesättigten Märkten aus eigener Kraft – also ohne Berücksichtigung von Zukäufen –zu wachsen. Der Gewinn je Aktie wird Jahr für Jahr gesteigert. Die Anteilseigner partizipieren daran durch Dividendenanhebungen und Aktienrückkäufe. Seit Mark Schneider Anfang 2017 CEO wurde, hat diese Erfolgsgeschichte noch an Dynamik gewonnen. Der ehemalige Vorstandschef des Gesundheitskonzerns Fresenius (2003 bis 2016) hat zwar im Grunde nur die Strategie seines Vorgängers Paul Bulcke, der nun Vorsitzender des Verwaltungsrates ist, übernommen, nämlich stagnierenden Geschäften entweder neues Leben einzuhauchen oder sie abzustoßen, verfolgt diese Linie aber konsequenter.
Erfolgsmodell wankt
Hinzu kommen Übernahmen von mehrheitlich kleineren Firmen oder Assets, die hohe Wachstumsraten und Renditen vorweisen können. Schneider lässt sich beim Kauf auch von relativ hohen Multiples nicht abschrecken. Der Erfolg gibt dem Konzernchef bislang Recht. Allerdings könnte eine Rezession in Europa oder sogar weltweit dieses Wachstumsmodell ins Wanken bringen, wie sich am immer schwächer werdenden Mengenwachstum in der Gruppe zeigt (siehe Bericht auf Seite 13). Sollten die Verbraucher angesichts eines Konjunkturabschwungs auch noch preissensibler werden, würde das für Nestlé, deren Markenprodukte deutlich teurer sind als z. B. die Handelsmarken der Supermarktketten oder Waren von Billiganbietern, zu einem ernsten Problem. Die „Präzisierung“ des Margenziels für 2022, wie es Nestlé formuliert, könnte ein erstes Signal in diese Richtung sein. Gemäß Bruno Monteyne, Analyst von Bernstein, ist Nestlé der erste große Vertreter aus der Konsumgüterindustrie – zu der auch Unilever und Danone gehören –, der den Margenausblick gesenkt hat.
„Kaufen“ empfohlen
Bislang stellen Analysten dem Lebensmittelriesen aber noch ein gutes bis sehr gutes Zeugnis aus. Das vom Datensammler und -auswerter Bloomberg aus den Empfehlungen von etwa 30 Research-Häusern ermittelte Konsensrating für die Aktie beträgt 4,07; das bedeutet, dass im Schnitt zum Kauf des Papiers geraten wird.
Der Durchschnittszielkurs, den Bloomberg aus den Nennungen der Analysten errechnet hat, liegt bei 129 Euro. Gemessen am derzeitigen Kursniveau von rund 117 sfr ist das ein Aufwärtspotenzial von 10%. Die höchsten Kursziele setzten zuletzt UBS, BNP Paribas Exane und Bank Vontobel mit jeweils 140 sfr, CIC Market Solutions und DZ Bank mit je 139 sfr sowie Goldman Sachs mit 138 sfr. Die niedrigsten Kursziele kommen von RBC Capital und Jefferies (jeweils 100 sfr) sowie Morningstar (106 sfr). Das Gros der Ziele liegt aber über 120 sfr.
Die Erfolge und Verlässlichkeit eines Unternehmens in puncto Umsatz- und Gewinnentwicklung, Prognoseerfüllung sowie Ausschüttung schlagen sich in der Bewertung nieder, wie diverse Kurs-Ratios von Nestlé zeigen. Auf Basis der Ergebnisschätzungen der Analysten für 2022 bis 2024 ist Nestlé hoch bewertet – allerdings nicht höher als im historischen Vergleich.
KGVe für 2022 von 25
Für 2022 wird gemäß Bloomberg im Schnitt ein Gewinn je Aktie von 5,08 sfr vorausgesagt, nächstes Jahr sollen es 5,52 sfr und 2024 sogar 5,86 sfr je Anteilschein werden. Daraus ergeben sich auf Basis des aktuellen Aktienpreises Kurs-Gewinn-Verhältnisse (KGV) von 24,9 (2022), 23,0 (2023) und 21,1 (2024). Das Kurs-Cashflow-Verhältnis soll sich ebenfalls verbessern: von 20,0 über 18,5 auf 14,8. Doch auch diese Werte liegen über dem Branchendurchschnitt.
Die hohen Bewertungskennziffern in Verbindung mit dem eher überschaubaren Aufwärtspotenzial, das der Aktie zugetraut wird, bei gleichzeitig fast einhelliger Kaufempfehlung für das Papier durch die Research-Häuser, lassen nur einen Schluss zu: Die Nestlé-Aktie wird von Analysten als sicherer Hafen angesehen. Selbst wenn es zu der befürchteten Rezession kommt und die Verbraucher zu günstigeren Produkten greifen bzw. Nestlé Preiserhöhungen nicht mehr ohne Mengenverluste durchsetzen kann, gilt es als ausgemacht, dass der Schweizer Konzern ohne großen oder gar nachhaltigen Schaden aus der Krise kommen wird.