„Trend zur Abwertung des Euro wird sich fortsetzen“
Christopher Kalbhenn.
Herr Bottermann, steuern die USA und der Euroraum auf eine schwere Rezession zu?
Die wirtschaftlichen Aussichten der USA und der Eurozone entkoppeln sich derzeit immer stärker: Die Kombination von massiver sicherheitspolitischer Bedrohung und einer erheblichen Verteuerung der notwendigen Energieimporte ist vor dem Hintergrund der ohnehin fragilen Architektur der Eurozone sicherlich mehr als eine Zäsur. Derzeit wird das Momentum zwar noch durch den aufgestauten Nachholbedarf gestützt, so dass eine tiefe Rezession bis auf Weiteres unwahrscheinlich bleibt. Bei einer Fortsetzung des Ukraine-Konfliktes ist es aber insgesamt wahrscheinlich, dass die Wachstumskräfte im Rahmen der aktuellen Krisenkonstellation zumindest zwischenzeitlich annähernd ganz zum Erliegen kommen. Die US-Volkswirtschaft hat nach dem Covid-Schock eine sehr dynamische Erholungsbewegung durchlaufen, die sich zuletzt naturgemäß weiter abkühlte. Strukturell stehen die USA mit einer leistungsfähigen Marktwirtschaft aber sehr solide da. Konjunkturell stützend wirkt insbesondere die komfortable finanzielle Situation des gesamten privaten Sektors, so dass eine veritable Rezession unwahrscheinlich bleibt.
Wie wird sich die Inflation 2023 entwickeln? Wie schätzen Sie die längerfristigen Inflationsaussichten ein?
Bottermann: Trotz des aktuell hohen Preisdrucks verweisen die Daten meines Erachtens immer noch eher auf Strukturstabilität des Inflationsprozesses: Es sind letztlich die pandemie- und kriegsbedingten Sonderfaktoren, denen der starke Inflationszuwachs zuzuschreiben ist. Die zugrundeliegenden Prognoserisiken bleiben weiterhin zwar überdurchschnittlich hoch, der Preisdruck wird aber im Jahresverlauf ausgehend von den USA aller Voraussicht nach auch weltweit spürbar abnehmen. Konkret erwarten wir, dass der US-Preistrend allerspätestens zur Jahresmitte 2023 nachhaltig nach unten dreht, wahrscheinlich dürfte bereits im Frühjahr 2023 erkennbar werden, dass sich die Inflationsproblematik zumindest in den USA weitgehend gelöst haben wird. Obwohl sich der Euroraum traditionell durch eine wesentlich geringere Preiselastizität auszeichnet und von den kriegsbedingten Sondereffekten wesentlich stärker betroffen ist als die USA, dürfte der globale Inflationsverbund auch der Eurozone die entscheidende Schützenhilfe für die Reduktion der Inflation liefern.
Herr Wohlgemuth, welche Rolle spielen die geopolitischen Risiken?
Die Geopolitik als Belastungsfaktor für die Kapitalmärkte hat im letzten Jahr stark an Signifikanz hinzugewonnen. Das Verhältnis zwischen den USA und China ist eher durch Gegnerschaft als durch ein Konkurrenzdenken gekennzeichnet. Symbolhaft dafür gelten die neuen US-Exportbeschränkungen für die Halbleiterindustrie, die gravierende Folgen für die chinesische Seite haben werden. Mit diesen wird die Reichweite der Maßnahmen, mit denen Chinas technologische und militärische Fortschritte eingedämmt werden sollen, beträchtlich erweitert. Dazu kommt der russische Angriffskrieg in der Ukraine, welcher viele Annahmen über die europäische Nachkriegsordnung und über „funktionierende Abhängigkeiten“, gerade im Energiesektor, pulverisiert hat. Der Krieg in der Ukraine hat eindrucksvoll gezeigt, dass ohne die politische Führerschaft der USA eine angemessene Antwort auf das russische Machtstreben nur schwerlich möglich erscheint. Wichtig ist, dass diese Führungsrolle auch in den USA sakrosankt bleibt.
Ist das Ende der Globalisierung eingeläutet?
Wohlgemuth: Nein, das ist mitnichten der Fall. Die Globalisierung zeigte sich – auch im Krisenjahr 2022 – weiterhin sehr robust, eine Strukturveränderung findet jedoch dergestalt statt, dass sich die Globalisierung stärker als früher auf den Dienstleistungssektor verlagert. Das mitunter verbreitete Bild der Deglobalisierung ist daher grundlegend falsch. Jedoch ist mittlerweile der Konkurrenzkampf zwischen den USA und China zu einem Leitbild des internationalen Wettkampfes um Einflusssphären geworden. Dabei werden Fragen der Technologieentwicklung und -nutzung nahezu als Ausdruck der Zugehörigkeit zu einem Einflussbereich verstanden. Dieses sogenannte „Decoupling“ der beiden größten Volkswirtschaften der Welt stellt für die Globalisierung eine ernst zu nehmende Bedrohung dar. Vor dem Hintergrund dringend benötigter Wachstumsimpulse für die chinesische Wirtschaft erwarten wir aber keine weitere Verschärfung dieses systemischen Konfliktes in nächster Zeit.
Erwartungen an ein zügiges Ende des Zinserhöhungszyklus sind von der Fed und der EZB im Dezember enttäuscht worden. Was erwarten Sie von den Zentralbanken im neuen Jahr?
Bottermann: Die Aussichten für die Geldpolitik werden derzeit fast ausschließlich vom weiteren Inflationsverlauf bestimmt. Ausgehend von unserem Szenario dürfte die US-Notenbank den Hochpunkt ihres Restriktionsgrades voraussichtlich zur Jahresmitte 2023 erreichen. Die EZB könnte ihren Zinserhöhungszyklus einmal mehr noch etwas länger fortsetzen, voraussichtlich endet Letzterer bei Leitzinsen um 3,0% aber ebenfalls im Sommer 2023, da die Konjunktur so schwach verläuft. Eine erste Zinssenkung der Fed in der zweiten Jahreshälfte 2023 ist zwar grundsätzlich möglich, die Latte liegt diesbezüglich mit Blick auf die hohe Zielabweichung der Inflation aber sehr hoch.
Auf was müssen sich Anleger bezüglich der Anleihemärkte einstellen? Sind Unternehmensanleihen eine gute Wahl?
Bottermann: Da der Hochpunkt der risikofreien Kapitalmarktzinsen bereits durchmessen sein sollte, profitieren insbesondere Anleihen längerer bis mittlerer Laufzeit vom erwarteten Zinsrückgang. Auch die Risikoprämien für Unternehmensanleihen sollten mittelfristig wieder sinken, dies erwarten wir etwa für die Jahresmitte 2023. Mit Blick auf das deutlich höhere Zinsniveau sollten grundsätzlich vor allem Anlagen auf den US-Märkten bevorzugt Berücksichtigung finden.
Ist die Zeit der „Alternativlosigkeit“ von Aktien vorbei?
Wohlgemuth: Aufgrund des immensen Zinsanstiegs im letzten Jahr gibt es mittlerweile wieder eine Fülle an Alternativanlagen zu den Aktienmärkten. Trotzdem befinden sich die Realrenditen an den Rentenmärkten angesichts hoher Inflationsraten weiterhin deutlich im negativen Terrain, so dass die relative Vorteilhaftigkeit der Aktienanlage weiterhin gegeben ist. Zudem bieten Aktien aufgrund ihres Sachwertcharakters einen guten Inflationsschutz, insbesondere bei Unternehmen mit einer hohen Preissetzungsmacht.
Der Dollar hat 2022 stark angezogen, befindet sich seit September aber in einer Korrektur. Wird sie sich 2023 fortsetzen?
Bottermann: Auf die kurze Frist wird der Euro noch durch die überraschend dezidierte Kehrtwende der EZB gestützt, mittelfristig könnte die strukturelle Verschlechterung der ökonomischen Rahmenbedingungen zu einer weiteren Niveauverschiebung des Handelsbandes führen. Das Ausmaß dieser strukturellen Abwertung ist mit Blick auf die hohe Abhängigkeit von Energieimporten dabei vor allem auch eine Funktion von Dauer und Intensität des Ukraine-Krieges. Mittelfristig maßgeblich ist ferner der exakte Inflationspfad im Euroland: Wir halten es für gut möglich, dass eine nachhaltigere Disinflationierung in Europa ab der Jahresmitte erkennbar werden dürfte – dies wäre dann die Stunde der Tauben im EZB-Rat: Jenseits der geldpolitischen Symbolik zeichnet sich meines Erachtens bereits jetzt ab, dass die EZB etwa mit Blick auf das „quantitative tightening“ wesentlich expansiver bleibt als die Fed. Mit zunehmendem Zeitbezug wird es immer wahrscheinlicher, dass sich der seit dem Jahre 2008 vorherrschende strukturelle Trend zur Abwertung des Euro gegenüber dem US-Dollar – auf Jahressicht Richtung Wechselkursen um 0,98 Euro – fortsetzen wird.
Welche Faktoren sprechen für Aktien im Anlagejahr 2023?
Wohlgemuth: Der Vergleich mit dem Jahr 2022 stimmt uns zuversichtlich. Es spricht einiges dafür, dass die Rahmenbedingungen sich deutlich aufhellen werden. Die Inflationsraten sollten spürbar zurückgehen, folglich sollte der Druck auf die Notenbanken nachlassen. Die globalen Lieferketten haben sich nahezu wieder normalisiert, die Corona-Pandemie erscheint beherrschbar. Der Kurswechsel der chinesischen Führung in der Corona-Politik sollte – trotz der gerade stattfindenden enormen Infektionswellen in der Bevölkerung – merkliche Nachholeffekte in der Wirtschaft auslösen und somit zu deutlichen Wachstumsimpulsen für die Weltwirtschaft führen.
Welche Unternehmen bzw. Sektoren bevorzugen Sie?
Wohlgemuth: Gerade der Technologiesektor könnte nach den letztjährigen Kursverlusten einen genaueren Blick wert sein. Zudem sollten zyklische Werte in Erwartung eines sich verbessernden Umfeldes wieder stärker dotiert werden. Insbesondere diese sind in 2022 mit deutlichen Bewertungseinbußen bestraft worden, obwohl ihre Umsatz- bzw. Gewinnsituation sich grundsätzlich robust gezeigt hat. Zudem ist die Dividendenrendite oftmals sehr attraktiv. Aber auch das Segment der Zukunftsthemen (künstliche Intelligenz, Gesundheitssektor, erneuerbare Energien) erscheint aussichtsreich. Diese Themenfelder sollten dauerhaft ihre Vorteilhaftigkeit behalten.
Das Interview führte
Wirtschaftsprognosen | |||||
BIP-Wachstum | 2019 | 2020 | 2021 | 2022 | 2023 |
Deutschland | 1,1 | −3,7 | 2,6 | 1,5 | −0,5 |
Euroraum | 1,6 | −6,1 | 5,2 | 3,1 | 0,0 |
Frankreich | 1,9 | −7,9 | 6,8 | 2,5 | 0,7 |
Italien | 0,5 | −9,0 | 6,6 | 3,2 | −0,2 |
Großbritannien | 1,7 | −9,3 | 7,4 | 3,6 | 0,3 |
USA | 2,3 | −3,4 | 5,7 | 1,6 | 1,0 |
Kanada | 1,9 | –5,2 | 4,5 | 3,3 | 1,5 |
Industrienationen | 1,7 | −4,4 | 5,2 | 2,4 | 1,1 |
China | 6,0 | 2,2 | 8,1 | 3,2 | 5,2 |
Japan | −0,4 | 4,6 | 1,7 | 1,7 | 1,6 |
Asiat. Schwellenländer | 5,2 | −0,6 | 7,2 | 4,4 | 4,9 |
Schwellenländer | 3,6 | −1,9 | 6,6 | 3,7 | 3,7 |
Welt | 2,8 | −3,0 | 6,0 | 3,2 | 2,6 |
Inflation | |||||
Deutschland | 1,4 | 0,4 | 3,2 | 8,5 | 6,0 |
Euroraum | 1,2 | 0,3 | 2,6 | 8,3 | 5,5 |
USA | 1,8 | 1,2 | 4,7 | 8,1 | 3,1 |
China | 2,9 | 2,4 | 0,9 | 2,2 | 2,2 |
Quelle: National-Bank Börsen-Zeitung |