Globale Konjunktur

Stürzt die Weltwirtschaft in eine Rezession?

Reihenweise haben Experten ihre Prognosen für die Weltwirtschaft herabgesetzt. Warum momentan mehr für als gegen eine globale Rezession spricht.

Stürzt die Weltwirtschaft in eine Rezession?

Hat der Internationale Währungsfonds (IWF) die Hoffnung auf die viel beschworene sanfte Landung aufgegeben? Es hat den Anschein, denn sein kürzlich aktualisierter Konjunkturausblick lässt nur einen Schluss zu: Der IWF sieht schwarz für die Weltwirtschaft. „Die Welt könnte bald am Rande einer globalen Rezession stehen“, warnt IWF-Chefvolkswirt Pierre-Olivier Gourinchas.

Mit dieser Einschätzung ist der Währungsfonds, für viele das Maß der Dinge in Sachen Weltwirtschaft, in guter Gesellschaft. Die jüngsten Einkaufsmanagerumfragen veranlassen Chris Williamson, Chefvolkswirt der Marktforscher von S&P Global, zu dem Schluss: „Die Weltwirtschaft kommt nur noch im Schneckentempo voran.“ Seit Wochen fallen deswegen die Ölpreise. Fondsmanager äußern sich laut Bank of America skeptischer denn je über die konjunkturellen Aussichten. „Eine globale Rezession ist im Anmarsch“, betont Robin Brooks, Chefvolkswirt des internationalen Bankenverbands IIF, mit Blick auf den Einbruch der Exportaufträge in Deutschland, der Eurozone und den USA. Ökonomen haben reihenweise ihre Prognosen gesenkt – auf teilweise weniger als 3% Wachstum in diesem Jahr.

Viele Schocks auf einmal

So weit will der IWF nicht gehen – noch nicht. Seine Korrekturen fallen vorerst relativ milde aus: Dieses Jahr halten die Fachleute des IWF 3,2% Wachstum für möglich, 2023 2,9%. Im April waren es 0,4 und 0,7 Prozentpunkte mehr. Die Industrieländerorganisation OECD rechnet nur noch mit 3,0% in diesem und 2,8% im nächsten Jahr. Etliche Bankvolkswirte sind noch pessimistischer.

Doch auch der IWF sieht „die Risiken ganz klar abwärts gerichtet“. Der Schwächeanfall setzt demnach gerade erst ein. Unter Umständen wird die Weltwirtschaft demnach stärker in die Knie gehen, womöglich mit nur noch 2,6% Wachstum dieses und 2% nächstes Jahr. Zum Vergleich: 2021 wuchs die Weltwirtschaft dank der Post-Corona-Erholung 6,1%.

Im Schatten des Ukraine-Kriegs hat sich ein nie dagewesenes, brisantes Gemisch an Risiken zusammengebraut – die teils zu „beißen“ beginnen, wie IWF-Chefvolkswirt Gourinchas es ausdrückt. Energieschock in Europa, Inflation und simultan steigende Zinsen in aller Welt, mögliche Schuldenprobleme in Schwellen- und Entwicklungsländern, Corona- und Immobilienkrise in China: Selbst damit ist die Auflistung an Risikofaktoren durch den IWF nicht erschöpft.

Hoffnungsschimmer gibt es durchaus: Die Arbeitsmärkte in vielen großen Volkswirtschaften zeigen sich so robust, als hätte es Coronakrise und Kriegsausbruch nie gegeben. Statistiker in den USA wie der Eurozone melden Monat für Monat Topwerte. Die sehr gute Beschäftigungslage und Ersparnisse aus der Pandemie füllen die Freizeit- und Urlaubskassen: Der Tourismus führt die Erholung vieler Dienstleister an, weil viele Menschen nach zwei Jahren Pandemie ihre Lust auf Reisen und Restaurantbesuche wiederentdeckt haben. Allerdings sind Fluggesellschaften und Flughäfen dem Ansturm nicht gewachsen. Und die vielerorts hohe Inflation zehrt an den Reisebudgets.

Der Global Sentiment Indicator von Oxford Economics ist auf den niedrigsten Stand seit anderthalb Jahren abgebröckelt: „In den Unternehmen hat sich Pessimismus über die globalen Wirtschaftsaussichten verstärkt.“ Die Ökonomen des Institute of International Finance (IIF) beunruhigt die Vielzahl an Schocks zum selben Zeitpunkt. Um den Ernst der Lage zu verdeutlichen, hat IIF-Chefvolkswirt Brooks die Feststelltaste seiner Tastatur aktiviert: „GLOBAL RECESSION IS COMING“.

Die Möglichkeit einer weichen Landung dürfte spätestens bei einem Komplettstopp russischer Gaslieferungen nach Europa dahin sein. Trotz allem ermuntert der IWF Zentralbanken, im Kampf gegen die viel zu hohe Inflation stoisch Kurs zu halten und die Geldpolitik zu straffen. Zinserhöhungen würden „unweigerlich reale wirtschaftliche Kosten verursachen, aber eine Verzögerung wird diese nur verschlimmern“. Heißt: Besser unsanft aufsetzen, solange es noch geht, statt später einen Crash zu riskieren.

Überblick: Diese Faktoren sprechen für eine Rezession

Geldpolitik: Die weltweit hartnäckig hohe Inflation ist in doppelter Hinsicht ein Problem für die globale Konjunktur: Ei­nerseits dämpft sie die reale Kaufkraft und damit die Konsummöglichkeiten erheblich, und sie erhöht die Unsicherheit für Unternehmen – beides bremst die wirtschaftliche Aktivität. Andererseits treibt sie die Zentralbanken dazu, ihre Leitzinsen in einem Tempo wie seit Jahrzehnten nicht zu erhöhen – was die Finanzierungsbedingungen der Wirtschaft verschärft.

Vor allem die US-Notenbank Fed prescht voran: Angesichts eines 40-Jahres-Hochs bei der Verbraucherpreisinflation (9,1 % im Juni) hat die Fed seit März ihren Leitzins um insgesamt 225 Basispunkte auf 2,25 bis 2,5 % angehoben, und sie steuert auf weitere Zinserhöhungen zu. Zugleich hat sie im Juni mit dem Abbau ihrer aufgeblähten Bilanz begonnen. Ein solcher Gleichklang der geldpolitischen Straffung ist historisch. Auch andere Zentralbanken treten gehörig auf die Bremse: Jüngst hat die Bank of England ihren Leitzins um 50 Basispunkte nach oben geschraubt, auf 1,75 % – obwohl sie zugleich vor der längsten Rezession seit der Weltfinanzkrise 2008 warnt.

Im Dilemma zwischen viel zu hoher Inflation und Rezessionsängsten legen viele Notenbanken derzeit also klar den Fokus auf die Inflationsbekämpfung – auch aus Sorge um ihre Glaubwürdigkeit. Die Zentralbank der Zentralbanken BIZ unterstützt das: Die Weltwirtschaft stehe an der Schwelle zu einem neuen Inflationsregime, deswegen sei nun entschlossenes Handeln nötig. Zugleich wächst die Schar jener Volkswirte, die warnen, dass die Notenbanken nach dem Unterschätzen der Inflation im Jahr 2021 nun den gegenteiligen Fehler machen und überziehen – und der Konjunktur so komplett den Garaus machen. Die Zentralbanken befinden sich auf einer Gratwanderung.

Energiekrise: Der Wirtschafts- und Finanzkrieg mit Russland zwingt die Europäer, sich auf ein noch vor wenigen Monaten undenkbares Szenario einzustellen – einen vollständigen Stopp der Gaslieferungen. Und nicht nur sie: Weite Teile der Weltwirtschaft würden in Mitleidenschaft gezogen, sollte die Gaskrise eskalieren, schätzt Jennifer McKeown, Chefin für globale Konjunktur beim Analysehaus Capital Economics: „Während einige Volkswirtschaften von den höheren Gaspreisen profitieren werden, wird der Nettoeffekt für die Weltwirtschaft negativ sein.“ Die Gaspreise haben sich in kürzester Zeit vervielfacht.

Die Eurozone und allen voran deren größte Volkswirtschaft Deutschland würden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in eine ausgewachsene Rezession stürzen. Die EU-Staaten haben kürzlich einen Gas-Sparplan der EU-Kommission abgesegnet. 15 % soll jeder EU-Staat einsparen, wobei es zahlreiche länderspezifische Ausnahmen gibt. Die Volkswirte der niederländischen Bank ING taxieren die zu erwartenden Einbußen eines Komplettlieferstopps für die Wirtschaftsleistung im Euroraum auf 1 bis 3 Prozentpunkte. Hierzulande dürfte der Einschlag heftiger werden.

Ökonomen warnen für Herbst und Winter vor erbitterten Verteilungskämpfen. Etlichen EU-Staaten hat Moskau bereits den Gashahn zugedreht. In Deutschland kommen derzeit noch 20 % der eigentlich vereinbarten Liefermengen an. Der Staatskonzern Gazprom begründet das mit Verzögerungen bei der Lieferung von Pipelineturbinen. Die Bundesregierung hält das für vorgeschoben. Alle Augen sind auf die Gasspeicher gerichtet: Noch füllen sie sich allmählich. Doch die Zeit wird knapp – und die USA werden erst in einigen Monaten mit Flüssiggas zu Hilfe eilen können, weil die nötige Infrastruktur erst noch im Bau ist.

Verschuldung: „Up, up, up!“ Berechnungen des internationalen Bankenverbands IIF zufolge hat die weltweite Gesamtverschuldung im Frühjahr ein absolutes Rekordhoch von 305 Bill. Dollar erreicht. Relativ zur Wirtschaftsleistung sind die Schuldenstände leicht gesunken, auf allerdings immer noch besorgniserregende 348 % des globalen Bruttoinlandsprodukts. Laut IIF liegt das 15 % unter den in der Coronakrise gemessenen Höchstständen. Zum Vergleich: Zur Jahrtausendwende lag die globale Verschuldung um die 200 % der damaligen Wirtschaftsleistung.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) warnt aus aktuellem Anlass: „Die Verschärfung der globalen Finanzierungsbedingungen könnte zu Schuldenproblemen in Schwellen- und Entwicklungsländern führen.“ Der US-Ökonom Nouriel Roubini sieht „reichlich Grund zu der Annahme, dass die nächste Rezession mit einer schweren stagflationären Schuldenkrise einhergeht“. Mit Stagflation ist geringes oder kein Wachstum bei gleichzeitig hoher Inflation gemeint.

Die Staatsverschuldung ist während der Pandemie sprunghaft angestiegen, weil viele Regierungen Rettungspakete geschnürt haben. Im Privatsektor haben die jahrelangen Niedrigzinsen vor allem an den Im­mobilienmärkten für einen schuldenfinanzierten Boom gesorgt. Bei steigenden Zinsen haben Staaten und Private mehr Mühe, Vorhaben auf Pump zu finanzieren – gerade wenn gleichzeitig die Konjunktur schwächelt. So hat die Ratingagentur Fitch ihre bis dato eher zuversichtliche Einschätzung zu den Aussichten staatlicher Emittenten auf neutral herabgesetzt. Kritisch beäugt wird seit Jahren Chinas Rolle im globalen Schuldengeflecht: Das Land ist der wichtigste Gläubiger vieler Entwicklungsländer vor allem auf dem afrikanischen Kontinent – ohne dass es verlässliche Zahlen gibt.

Lieferkettenprobleme: Fehlten anfangs Chips für Computer, Elektronikartikel und Autos, so hat sich der Materialmangel mit fortschreitender Pandemie, der äußerst rigiden chinesischen Nulltoleranzpolitik gegen Corona und dem einsetzenden Ukraine-Krieg auf zahlreiche Rohstoffe, Vorprodukte und Branchen ausgeweitet. Am stärksten sind Industrie und Baubranche betroffen: Stahl, Kupfer, Holz, Papier und Pappe sowie Verpackungsmaterialien fehlen. Noch immer klagen in Deutschland laut Ifo-Institut fast drei Viertel der Unternehmen über Engpässe – und die dürften sich ins nächste Jahr ziehen.

Die Lage hat sich zwar zwischenzeitlich etwas gebessert, von einer dauerhaften Entspannung kann aber längst keine Rede sein. Speziell die deutsche Industrie wird wohl erst im kommenden Jahr dazu kommen, ihren Auftragsstau abzuarbeiten – wenn nicht noch später. Denn die Containerschiffstaus haben sich verlagert: Längst sind nicht mehr Häfen in den USA und China das Problem, sondern in Hamburg und Rotterdam. Dem Kiel Trade Indicator zufolge stauen sich derzeit 24 Frachter in der Deutschen Bucht und warten auf Abfertigung. Das Frachtvolumen im Roten Meer, der Haupthandelsroute zwischen Europa und Asien, liege um ein Fünftel niedriger, als unter normalen Umständen zu erwarten wäre. Die Lücke sei großteils auf ausbleibende Fracht von Europa nach Asien zurückzuführen.

Der Welthandel kommt schleppend in Gang. Immerhin kühlen die horrenden Frachtraten für den Transport per Schiff und Flugzeug etwas ab. Gleichwohl liegen sie nach wie vor um ein Vielfaches höher als vor der Pandemie üblich. Der Lieferkettenstress veranlasst Unternehmen, ihre Lieferketten neu auszurichten und robuster gegen Schocks zu machen. Dieses Unterfangen braucht allerdings Zeit.

Diese Punkte sprechen gegen eine Rezession

Dienstleistungssektor: Mitunter wirkt es, als habe es die Corona-Pandemie nie gegeben: Bars und Restaurants, Bahnhöfe und Flughäfen sind voll, mitunter überfüllt. Die touristische Sommersaison läuft gut, wenn auch nicht alle Urlaubsparadiese gleich einen Massenansturm wie früher erleben. Die Menschen haben wieder Lust auf Reisen und Restaurantbesuche, und dank pandemiebedingter Ersparnisse sind die Urlaubskassen überwiegend gut gefüllt. Vor allem die chronischen Sorgenländer im Süden Europas frohlocken.

In weiten Teilen der Welt sind die Dienstleister momentan die konjunkturellen Hoffnungsträger, allen voran die Tourismusbranche. Doch der Post-Corona-Boom hat Schattenseiten: Airports und Airlines erweisen sich als Spielverderber. Weil vielerorts Personal fehlt, herrscht mitunter Chaos bei Check-in, Sicherheitskontrolle und Gepäckabfertigung. Und auch in anderen Bereichen herrscht nicht mehr nur eitel Sonnenschein: „Der jüngste Konjunkturaufschwung im Dienstleistungssektor hat deutlich an Dynamik verloren“, konstatiert Chris Williamson, Chefvolkswirt von S&P Global Market Intelligence, auf Grundlage der neuesten Einkaufsmanagerumfragen.

Eine Weile dürften die Dienstleister noch vom Wiederaufschwung im dritten Jahr nach Ausbruch der Pandemie profitieren. Wenn auch eben nicht ganz so kräftig und so lang anhaltend wie erwartet oder zumindest erhofft. Ein wesentlicher Grund: Die sehr hohe Inflation und die infolge des Ukraine-Kriegs rasant gestiegenen Energiekosten nagen an der Kaufkraft und reizen den finanziellen Spielraum vieler Haushalte zu weiten Teilen aus. Ein anderer Grund ist die latente Furcht, dass es im Herbst oder Winter aufs Neue zu Corona-Beschränkungen kommen könnte, weil die Pandemie doch nicht überwunden ist.

Arbeitsmärkte: Die Konjunkturperspektiven trüben sich weltweit ein, nur die Arbeitsmärkte zeigen sich davon bislang in vielen Ländern recht unbeeindruckt. In den USA liegt die Arbeitslosenquote bei nur 3,5 %, was im Bereich der Vollbeschäftigung ist, und im Euroraum liegt die Quote auf dem Rekordtief von 6,6 %. Das stützt tendenziell den Konsum und damit die Konjunktur insgesamt. Das gilt umso mehr, als die Verbraucher nach verbreiteter Einschätzung in der Pandemie hohe zusätzliche Ersparnisse aufgebaut haben – auch wenn es da inzwischen auch skeptischere Töne gibt.

Mahner warnen jetzt vor übertriebenem Optimismus und verweisen darauf, dass der Arbeitsmarkt ein nachlaufender Konjunkturindikator sei und sich die schwächere Konjunktur absehbar am Arbeitsmarkt niederschlagen werde. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) dagegen begründet die weiter gute Jobentwicklung in Deutschland nicht zuletzt auch damit, dass es seit mehreren Jahren „eine komplette Entkoppelung von Konjunktur und Arbeitsmarkt“ gebe. Gründe seien die sich seit Jahren bessernde Binnennachfrage und die deutliche Verknappung von Arbeitskräften. Tatsächlich betonen Unternehmen in etlichen Ländern in Umfragen, wie schwer es ist, gu­tes Personal zu finden oder zu halten. Der Fachkräftemangel behindert das Geschäft.

Laut der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ist die Zahl der weltweit geleisteten Arbeitsstunden nach deutlichen Zuwächsen Ende 2021 im ersten Quartal 2022 um 3,8 % unter den Wert des vierten Quartals 2019 – vor der Pandemie – gesunken. Laut ILO entspricht dies einem Defizit von 112 Millionen Vollzeitarbeitsplätzen. Und die ILO ist wenig optimistisch: Die aktuellen, miteinander verknüpften Krisen erhöhten die Gefahr einer weiteren Verringerung der Arbeitsstunden 2022.

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