Sheriff der Wall Street versucht sich als Robin Hood
Von Alex Wehnert, Frankfurt
Gary Gensler positioniert sich als Held des kleinen Mannes. Seit seinem Amtsantritt im April 2021 setzt der Vorsitzende der US-Börsenaufsicht SEC den Investorenschutz ganz oben auf die Agenda, unter seiner Führung haben die Vollstreckungsmaßnahmen der Behörde wegen mutmaßlichen Marktmissbrauchs, Betrugs und anderer Gesetzesverstöße Rekorde gebrochen. So stieg das Volumen der verhängten Geldstrafen im Ende September abgeschlossenen Fiskaljahr auf ein Allzeithoch von 6,44 Mrd. Dollar – gegenüber dem vorherigen Zyklus bedeutete dies einen Anstieg um 67%.
Zudem hat Gensler zahlreiche Reformen angestoßen: Hedgefonds sollen nach dem Willen des Demokraten künftig beispielsweise deutlich mehr Informationen über ihre Anlagestrategien zur Verfügung stellen müssen, um Systemrisiken besser erkennen zu können. Auch die Einführung strengerer Regeln für Indexprovider prüft die Aufsicht, schließlich stellt sich nach Genslers Ansicht die Frage, ob die Dienstleister mittlerweile nicht in die Anlageberatung vorstießen. Bereits im Mai 2021 einigte sich die SEC mit dem Indexprovider S&P Dow Jones in einer Auseinandersetzung um falsch publizierte Daten eines Volatilitätsindex auf einen Vergleich – der Finanzdienstleister erklärte sich zu einer Strafzahlung über 9 Mill. Dollar bereit.
Großes Reformvorhaben
Gensler, Enkel eines litauischen Einwanderers und Sohn eines Betreibers von Zigarettenautomaten aus Baltimore, nimmt von den Reichen und will insbesondere Privatanleger vor den Folgen von Marktmanipulationen bewahren. Nun versucht sich der Sheriff der Wall Street mit seinem bisher wohl größten Reformvorhaben indes stärker denn je in der Rolle des Robin Hood. Mit neuen Regeln, die der 65-Jährige und seine Behörde Mitte Dezember zu einer bis Ende März laufenden Konsultation an den Markt weitergegeben haben, will Gensler den Aktienhandel tiefgreifend überarbeiten und dabei insbesondere die Praxis des Payment for Orderflow (PFOF) ins Visier nehmen.
Bei dieser erhalten Broker Vergütungen dafür, dass sie Orders an Handelsdienstleister routen. In einigen Fällen erhalten Börsen wie die New York Stock Exchange den Zuschlag, in anderen aber Wholesaler wie Virtu Financial. Diese Dienstleister verdienen daran, im Rahmen der Orderausführung Aktien zu erwerben und zu einem geringfügig höheren Preis weiterzuverkaufen.
Broker verweisen darauf, dass die Wholesaler bessere Preise stellten als öffentliche Börsen. Nach Genslers Ansicht zieht die Praxis jedoch Interessenkonflikte nach sich, schließlich könnten Broker aufgrund des PFOF in Versuchung geraten, einzelne Orders gemäß der Höhe der gesamten vom Wholesaler gezahlten Vergütung zu routen und die Ausführungsqualität dabei hintanzustellen.
Der Sheriff der Wall Street will dem nun durch die Einführung eines Auktionssystems begegnen, in dessen Rahmen sich verschiedene Handelsdienstleister um die Ausführung eines einzelnen Trades bewerben. So soll ein stärkerer Wettbewerb zwischen den verschiedenen Börsen und Wholesalern entstehen, der nach dem Willen der SEC wiederum eine insgesamt steigende Ausführungsqualität der Orders nach sich ziehen würde.
Kritiker glauben indes, dass ein Einzelauktionsverfahren viele Privatanleger schlechter stellen würde als aktuell. Denn für Handelsdienstleister sei es unattraktiv, sich auf die Orderausführung für illiquide Aktien zu bewerben, während sie diese Trades im derzeitigen System abwechselnd zugeteilt bekämen. Bei Auktionen, die Aktien mit niedrigen Handelsvolumina beträfen, sei also mit einer geringeren Teilnehmerzahl zu rechnen – was zu einer ineffizienteren Preisfindung führen werde.
Uneinige Kommission
Zu den Kritikern zählen nicht nur Wholesaler, auch Genslers republikanische Kollegen aus der SEC-Kommission votierten dagegen, die Auktionsregel in die Konsultation zu geben. Der Vorsitzende überstimmte sie mithilfe seiner demokratischen Parteigenossen. Dennoch sieht sich Gensler dem Vorwurf ausgesetzt, ein Problem zu suchen, wo keines ist – und darüber auch die Zügel in anderen Bereichen schleifen zu lassen.
Denn der Sheriff der Wall Street, der in der Vergangenheit hart gegen Krypto-Dienstleister und Token-Emittenten durchgriff, blieb im Skandal um den Kollaps der Kryptobörse FTX überraschend blass. Die Plattform meldete am 11. November Insolvenz an, im Nachgang verklagte die SEC ihren Gründer Sam Bankman-Fried wegen Betrugs.
Doch Regulierungsexperten und Krypto-Branchenvertreter monieren, die Börsenaufsicht hätte schon im Vorfeld auf Warnzeichen reagieren und gegen die Kryptobörse ermitteln müssen. Dann hätte die Behörde auch Belege über die Bilanzierungspraktiken von FTX gehabt, so der Vorwurf – mit einem spezifischen, umfassenden Regelwerk für digitale Assets sei der FTX-Crash vielleicht sogar ganz zu verhindern gewesen.
Zyniker unterstellen indes, der SEC-Chef habe nur auf eine Kryptokrise dieser Schwere gewartet. Diese werde der Sheriff der Wall Street nun nutzen, um sein weiteres aggressives Vorgehen gegen die Digital-Assets-Branche vor dem US-Kongress zu rechtfertigen. Denn Gensler habe noch viele Pfeile im Köcher.