„Aktien sind nicht überbewertet“
Dieter Kuckelkorn.
Herr Hole, die Aktienmärkte befinden sich vielfach auf Allzeithochs, während die Pandemie in vielen Ländern wie beispielsweise Indien noch nicht besiegt ist. Lassen sich damit an den Märkten Übertreibungen feststellen?
Ich glaube das eigentlich nicht. Denn wenn man sich die Gewinnschätzungen in Europa und den USA ansieht, so muss man feststellen, dass diese recht positiv aussehen. Wenn man beispielsweise für den S&P 500 die Gewinnerwartungen der kommenden zwölf Monate betrachtet, wird man feststellen, dass diese sich auf einem Allzeithoch befinden. Sie sind damit deutlich höher als vor dem Ausbruch der Pandemie. Europa hinkt ein klein wenig hinterher, was auf die unterschiedliche Gewichtung der Sektoren auf beiden Seiten des Atlantiks zurückzuführen ist. Aber letztlich sieht es auch in Europa gar nicht schlecht aus. Und was die Bewertungen betrifft, so sollte man sich vor allem die Risikoprämie am Aktienmarkt gegenüber risikolosen Staatsanleihen ansehen. Es ist zwar richtig, dass sich die Bewertungen am amerikanischen Aktienmarkt gemessen am Kurs-Gewinn-Verhältnis mit 22 in der Nähe des Allzeithochs während der Dotcom-Bubble von 25 befinden. Der große Unterschied liegt aber darin, dass das Zinsniveau damals sehr viel höher war und die Risikoprämie am Aktienmarkt damit bei −2% lag. Aktuell liegt diese Risikoprämie hingegen bei +3%. Dies ist der entscheidende Unterschied gegenüber der Situation am Aktienmarkt während der Dotcom-Bubble vor rund 20 Jahren. Der Grund für die lange Zeit schlechtere Performance von Aktien gegenüber Anleihen lag darin, dass Dividendentitel überbewertet waren. Das war allerdings in den vergangenen zehn Jahren nicht mehr der Fall. Aktuell sind Aktien zwar nicht mehr so preisgünstig wie in einigen Phasen der vergangenen zehn Jahre, aber sie sind dennoch nicht überbewertet.
Sie haben die Lage am Bondmarkt bereits angesprochen. Viele Beobachter rechnen mit einem Anstieg der Renditen und der Inflation. Liegen darin Gefahren für den Aktienmarkt?
Die Rendite zehnjähriger US-Treasuries ist bereits bis auf 1,7 bis 1,8% gestiegen, hat dann aber wieder nachgegeben. Wir glauben, dass die langfristigen Renditen zwar noch etwas steigen können, aber wohl nicht massiv nach oben gehen werden. Wir sind auch ziemlich entspannt, was unsere Erwartungen hinsichtlich einer Straffung der Geldpolitik angeht. Die amerikanische Notenbank Federal Reserve hat bekanntlich ihren Ansatz der Inflationsbekämpfung modifiziert. Sie blickt nun auf den längerfristigen Durchschnitt der Inflation, ohne allerdings mitzuteilen, auf welche Zeitspanne sie dabei genau abstellt. Der jüngste Anstieg der US-Verbraucherpreise war mit 4,2% zwar ziemlich hoch, dabei ist allerdings der Basiseffekt zu berücksichtigen. Sieht man sich hingegen den Durchschnitt der vergangenen fünf Jahre von 1,8% an, so liegen wir immer noch unterhalb der erklärten Zielgröße der Fed. Die amerikanische Notenbank hat außerdem schon immer das Doppelziel der Inflationsbekämpfung und der Vollbeschäftigung, wobei Letzteres aktuell ein besonderes Gewicht hat. Dies bedeutet, dass die Fed hinsichtlich der Inflationsentwicklung entspannter ist als in der Vergangenheit.
Könnte die Inflation nicht doch außer Kontrolle geraten?
Ich glaube nicht. Langfristig wird die Inflation von der Entwicklung der Löhne und Gehälter angetrieben. Wir haben zuletzt einen spürbaren Anstieg der Produktivität gesehen, was bedeutet, dass auch bei höheren Löhnen und Gehältern die Lohnstückkosten relativ moderat steigen dürften. Dies ist der Schlüssel zur Inflationsentwicklung. Daher gehen wir davon aus, dass die Geldpolitik in den USA weiterhin bis etwa 2025 locker bleiben wird. In etwa dasselbe gilt für Europa. Die Europäische Zentralbank hat ihre Lektion aus dem Jahr 2011 gelernt, als sie nach der großen Finanzkrise die Zügel zu schnell wieder angezogen hat. In diesem Zusammenhang mag es von Vorteil sein, dass an der Spitze der EZB keine Ökonomin steht, sondern eine Politikerin, die möglicherweise etwas pragmatischer agiert.
Wenn also die Bewertungen an den Aktienmärkten nicht übertrieben sind und von der Zinsseite keine Gefahr droht, ferner die Impfkampagne nun sogar in Deutschland an Tempo zulegt, wie lange und wie weit kann sich die Rally am Aktienmarkt dann noch fortsetzen?
Am US-Aktienmarkt beträgt die Risikoprämie derzeit wie erwähnt rund 3%, in Europa liegt sie sogar bei 6%. Man muss zwar mit einem direkten Vergleich vorsichtig sein, weil die Sektorenstruktur in Europa eine andere ist als in den USA. Aber auch wenn man das berücksichtigt, muss man feststellen, dass die Bewertungen in Europa wirklich gut aussehen. Aus der Perspektive eines langfristigen Anlagehorizonts von etwa zehn Jahren ist der europäische Aktienmarkt momentan ziemlich interessant.
Europa hat aber doch bislang immer schlechter abgeschnitten als der US-Aktienmarkt.
Gerade wenn man sich den europäischen Markt anschaut, muss man sich immer vergegenwärtigen, dass man in die einzelnen Unternehmen investiert. Die Renditen am Aktienmarkt in Europa sind in den vergangenen zwölf Jahren seit dem Ende der Finanzkrise zwar um etwa 65% niedriger ausgefallen als in den USA, was auf die schwächere Entwicklung der Unternehmenserträge zurückzuführen ist – vor allem weil die großen Technologiekonzerne in Europa fehlen. Es gibt aber dennoch sehr interessante Unternehmen in Europa und es gibt auch einige interessante Bereiche, die sich in keiner der anderen Weltregionen finden lassen.
Woran denken Sie da?
Ich denke beispielsweise an die Unternehmen aus der Luxusgüterbranche. Die gibt es in dieser Form weder in den USA noch in Asien. Eine Dominanz europäische Unternehmen lässt sich beispielsweise auch im Bereich der Automobile der Oberklasse feststellen. Ähnliches gilt für die Bereiche Aerospace und Pharma. Daher kann man verschmerzen, dass die Entwicklung der europäischen Aktienindizes in den vergangenen Jahren vergleichsweise enttäuschend war.
Wird sich das von Ihnen beschriebene Phänomen der schwächeren Performance des europäischen Marktes in der Zukunft fortsetzen? Und was in diesem Zusammenhang wichtig ist: Wird die starke Entwicklung der großen amerikanischen Technologieaktien weitergehen wie bisher?
Dabei geht es im Wesentlichen um die Perspektiven vom Value-Aktien gegenüber Wachstumswerten. Zuletzt haben sich die Value-Aktien besser entwickelt, was vor allem auf drei Faktoren zurückzuführen ist. Langfristig in der Perspektive mehrerer Dekaden ist zu berücksichtigen, dass Value-Titel wesentlich höhere Dividendenrenditen aufweisen – und zwar in der Größenordnung von 2% über die vergangenen 30 bis 40 Jahre. Die beiden anderen Faktoren sind Bewertung und Fundamentaldaten. In den vergangenen Jahren hat die Entwicklung der Fundamentaldaten zwar eher für die Wachstumswerte gesprochen. Das hat sich nun aber seit ein bis zwei Jahren verändert, die Unterschiede haben sich stark abgeflacht. Und was die Bewertungen betrifft, so wirkten die Technologieaktien ungefähr seit Mitte vergangenen Jahres etwas überteuert. Seither gab es zwar auch wieder eine gewisse Korrektur. Per saldo gehe ich aber davon aus, dass sich die Rally der Value-Aktien noch eine ganze Weile fortsetzen wird.
Welche Sektoren sind derzeit auf dem europäischen Aktienmarkt am attraktivsten?
Interessant ist sicherlich der Bereich des gehobenen persönlichen Konsums, also der Luxusgütersektor. Darüber hinaus sehen wir uns Unternehmen an, die auf den Bau von Eigenheimen spezialisiert sind, aber auch ausgewählte Automobilwerte. Optimistisch sind wir aber auch hinsichtlich einiger Online-Gaming-Aktien. Man sollte niemals aus den Augen verlieren, dass die Pandemie grundlegende Änderungen im Konsumverhalten gebracht hat, die nachhaltig sind, wovon beispielsweise der Bereich Online-Gaming profitiert.
Gibt es eigentlich in Europa interessante Technologiewerte?
Die gibt es durchaus. So lässt sich den bereits veröffentlichten Informationen beispielsweise entnehmen, dass wir investiert sind in ASML, dem Weltmarktführer für Fotolithografie. Es gibt viele andere kleinere Unternehmen aus den Bereichen Software, Fintech und Biotechnologie, die interessant sind. Allerdings muss man einräumen, dass es in Europa praktisch keine großen, weltweit dominierenden Technologiekonzerne gibt.
Das Interview führte