Kein konjunktureller Rückenwind für die neue Regierung
Kein konjunktureller Rückenwind für neue Regierung
Ökonomen sehen gute Ansatzpunkte im Koalitionsvertrag, mahnen aber Strukturreformen an – IW rechnet mit 50 Mrd. Euro an Entlastungen
Die designierte schwarz-rote Bundesregierung kann für ihren Start kaum mit konjunkturellem Rückenwind rechnen. Dies geht aus der Frühjahrsprognose der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute hervor. Die Top-Ökonomen sehen aber positive Ansätze im Koalitionsvertrag zur Ankurbelung des Wachstums.
ahe/ba Berlin/Frankfurt
Die geopolitischen Umbrüche einschließlich der neuen Zollpolitik in den USA machen Strukturreformen in Deutschland noch dringlicher als bisher. Darauf verwiesen die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute am Donnerstag bei der Vorlage ihrer Frühjahrsprognose. Diese macht der künftigen Koalition aus Union und SPD wenig Hoffnung auf konjunkturellen Rückenwind zum Start ihrer Regierung. Für das laufende Jahr erwarten die Ökonomen nur noch ein Wachstum von 0,1%. Auch werden die ersten Milliarden aus den beschlossenen Finanzpaketen ihrer Einschätzung nach erst 2026 zum Tragen kommen.
Bürokratieabbau hilft dem Wachstum
Die mit der Gemeinschaftsdiagnose befassten Ökonomen bewerten den Koalitionsvertrag aber im Großen und Ganzen positiv: Es gebe „eine Reihe guter Ansätze“, die das Potenzial hätten, das Wirtschaftswachstum zu fördern. Sie seien allerdings „oft sehr vage formuliert“, sagte der Konjunkturchef des Essener RWI-Instituts, Torsten Schmidt, in Berlin. Einige der Maßnahmen hätten die Wirtschaftsforschungsinstitute bereits seit längerem gefordert – etwa die Senkung der Energiepreise, die Start-up-Förderung oder eine umfangreiche Entlastung von Bürokratie.
Ifo-Experte Timo Wollmershäuser, der auch den Fokus von CDU/CSU und SPD auf die Digitalisierung lobte, erwartet, dass allein der geplante Bürokratieabbau der künftigen Koalition das Potenzialwachstum um 0,2 oder 0,3 Prozentpunkte anheben könnte. Er zeigte sich aber ebenso wie andere Ökonomen skeptisch, dass mit den im Koalitionsvertrag genannten Maßnahmen das angestrebte Ziel eines Potenzialwachstums von deutlich über 1% erreichbar ist.
Ein „böses Omen“?
Viele der geplanten Maßnahmen der neuen Koalition seien „richtig – der große Wurf ist es aber nicht“, urteilte auch das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) aus Köln. Bei vollständiger Umsetzung des Koalitionsvertrags summieren sich die Entlastungen nach Berechnung des IW auf mehr als 50 Mrd. Euro pro Jahr am Ende der Legislaturperiode. Fragwürdig finden die Kölner, dass der Solidaritätszuschlag erhalten bleibt: „Er ist längst zu einer verkappten Unternehmenssteuer mutiert.“ Dass die Koalition stattdessen lieber die Mütterrente beschließe, könnte ein böses Omen für die kommenden Jahre werden, hieß es in einer Analyse.
Stefan Kooths vom IfW Kiel verwies ebenfalls auf Leerstellen im Koalitionsvertrag, insbesondere bei der Stärkung der Arbeitsanreize und bei einer demografiefesten Aufstellung der sozialen Sicherungssysteme. Auch bei der Energiepolitik vermag er kein wirkliches Umsteuern erkennen. Ifo-Experte Wollmershäuser vermisst zudem einen konkreten Ansatz zur Nachhaltigkeit der Staatsverschuldung. Insgesamt empfiehlt die Gemeinschaftsdiagnose der neuen Regierung, die Wirtschaftspolitik stärker auf Marktmechanismen auszurichten.
US-Handelspolitik das Hauptrisiko
Mit Blick auf die wirtschaftliche Schwäche konstatieren die Ökonomen, dass sie nicht nur konjunktureller, sondern auch struktureller Natur sei. Als Belastungsfaktoren gelten neben der Bürokratie und der abnehmenden Erwerbsbevölkerung der zunehmende internationale Wettbewerb – vor allem mit China – wodurch die relative Wettbewerbsposition der hiesigen Firmen geschwächt werde. Durch die Energiepreiskrise sei bereits ein Teil der Produktion in den energieintensiven Industrien verlorengegangen. Das Hauptrisiko aber sei derzeit die protektionistische US-Handelspolitik.

Erneutes Rezessionsjahr möglich
Angesichts der US-Zölle halten Ökonomen ein drittes Rezessionsjahr für nicht mehr unwahrscheinlich − eine so lange währende Schrumpfungsperiode gab es noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute sind dieser Ansicht nicht ganz abgeneigt, 2025 soll das BIP um 0,1 % zulegen, im Herbst waren noch 0,8 % erwartet worden. 2026 dürfte das Finanzpaket für Infrastruktur und Rüstung die Konjunktur stützen und das BIP um 1,3 (zuvor: 0,5)% zulegen. Von den Prognosen für 2025 und 2026 sind wegen der bereits gültigen US-Zölle aber je 0,1 Prozentpunkte abzuziehen.
Wachstumsbremse US-Zölle
Die jüngsten US-Zollerhöhungen sind in der Prognose noch nicht vollumfänglich berücksichtigt: Die am „Liberation Day" verhängten 20% sind nicht enthalten, die 25% auf Stahl, Aluminium und Autos hingegen schon. Sollten die noch um 90 Tage ausgesetzten reziproken Zölle greifen, würde das BIP-Wachstum 2025 und 2026 zusätzlich um je 0,2 Prozentpunkte geringer ausfallen. Zur Einordnung: Die USA sind Hauptabnehmer deutscher Waren, die Ausfuhren in die USA erreichten 2024 den Rekordwert von 161,4 Mrd. Euro, der Anteil an den gesamten deutschen Exporten lag bei 10,4 %.
Fortschritte bei der Inflation erwartet
Bei der Inflation erwarten die Institute weitere Fortschritte: Für das laufende Jahr wird − wie schon 2023 − eine durchschnittliche Jahresrate von 2,2% prognostiziert. 2026 nähert sie sich mit 2,1% dem EZB-Preisziel von 2% an. Die Arbeitslosigkeit dürfte leicht zunehmen: nach 6,0% im vergangenen Jahr werden für den Prognosezeitraum Arbeitslosenquoten von 6,3% bzw. 6,2% vorausgesagt.
Die von RWI, Ifo, IfW, IWH und DIW erstellte Frühjahrsprognose dient der Bundesregierung als Basis für ihre Projektionen, die am 24. April vorstellt werden soll. Diese wiederum ist die Grundlage für die Steuerschätzung.