Im BlickfeldAutobauer in der Krise

Volkswagen braucht mehr als den typischen Kompromiss

Weil Volkswagen wettbewerbsfähiger werden muss, sind auch betriebsbedingte Kündigungen und Werksschließungen in Deutschland kein Tabu mehr. Das Resultat nach dem Kräftemessen zwischen Management und Betriebsrat könnte die Zukunft von Oliver Blume als Vorstandschef beeinflussen.

Volkswagen braucht mehr als den typischen Kompromiss

Volkswagen braucht mehr als
den typischen Kompromiss

Erbittertes Kräftemessen in Wolfsburg um Einsparungen rüttelt auch an Doppelrolle von Oliver Blume

Von Carsten Steevens, Hamburg

Für Volkswagen sind Massenentlassungen und Werksschließungen in Deutschland kein Tabu mehr. Der Paukenschlag, für der Autobauer vor gut einem Monat mit der Ankündigung sorgte, die seit 1994 fortgeschriebene und noch bis 2029 vereinbarte Beschäftigungssicherung zu kündigen sowie erstmals in der Firmengeschichte möglicherweise auch heimische Standorte aufzugeben, wirft ein Schlaglicht auf die aktuelle Krise der deutschen Autoindustrie.

Die Wachstumsstory der Hersteller sei jahrelang auf den Export mit Fokus auf China ausgerichtet gewesen, konstatiert die LBBW. Die Bank betitelt eine aktuelle Sektoranalyse in Anspielung auf den Niedergang der amerikanischen „Motor City“ mit „Der drohende Detroit-Moment für die deutsche Automobilindustrie“. Ferner habe sich die Branche bei Verbrennern wie bei Elektrofahrzeugen vor allem auf hochpreisige Premiumfahrzeuge ausgerichtet. Beide Strategien stießen an ihre Grenzen.

Strukturelle Kostenprobleme

Die Bank verweist vor dem Hintergrund jüngster Gewinnwarnungen einzelner Hersteller wie VW auf die Konsumkrise im weltgrößten Absatzmarkt China. Zudem fänden teure Stromer, die ihren chinesischen Konkurrenten technisch teilweise unterlegen seien, nicht den gewünschten Absatz. Hinzu kämen strukturelle Kostenprobleme sowie ab 2025 verschärfte CO₂-Emissionsgrenzen in der EU mit möglichen Strafzahlungen in Milliardenhöhe. Notwendige Schritte lägen auf der Hand, eine einfache Lösung sei jedoch kaum zu erreichen.

Im ersten Halbjahr 2024 fielen die operativen Gewinne der deutschen Hersteller BMW, Mercedes-Benz und Volkswagen verglichen mit dem Vorjahr bei insgesamt nahezu unveränderten Umsatzerlösen um 18%, wie die Beratungsgesellschaft EY in einer Analyse der 16 größten weltweit tätigen Autokonzerne ermittelt hat. Bei der Umsatzrendite rangieren Mercedes (10,9%) und BMW (10,8%) in dieser Studie aber noch an zweiter und dritter Stelle, während VW mit 6,3% auf Platz 11 liegt.

Margen unter Druck

Die stärksten Profitabilitätseinbußen im ersten Halbjahr stellt die Studie bei Stellantis (7,8%) und Tesla (5,9%) fest. Hohe Investitionen in die Elektromobilität, in eigene Software-Fähigkeiten und Rabattaktionen belasteten die Profitabilität, so EY. Zugleich führe eine schwache Nachfrage zu niedrigen Stückzahlen und schwach ausgelasteten Fabriken. Das alles drücke auf die Marge.

Bei der Wolfsburger Kernmarke Volkswagen Pkw, die für gut ein Viertel des VW-Konzernumsatzes steht, rutschte die Umsatzrendite zuletzt auf 2,3% ab. Damit besteht kaum Spielraum, um in die Transformation investieren oder auf Preisrabatte der Konkurrenz reagieren zu können. Das weiß auch der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD), der für das mit einem Stimmrechtsanteil von 20% an VW beteiligte Land im Aufsichtsrat des Konzerns sitzt.

Werke in Gefahr

Dass mit Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit Handlungsbedarf besteht, wird in Hannover nicht bestritten. Die erst im vorigen Jahr vereinbarten Maßnahmen, die bei der Kernmarke bis 2026 zu einer Marge von 6,5% führen sollen, haben sich als nicht ausreichend erwiesen. Nach Darstellung des Managements muss sich der Konzern künftig mindestens auf eine halbe Million weniger verkaufte Autos pro Jahr in Europa einstellen, verglichen mit der Zeit vor der Corona-Pandemie. Es fehlten die Verkäufe für rund zwei Werke.

Doch dass bei VW-Standorten in Niedersachsen die Lichter ausgehen und Zigtausende Beschäftigte entlassen werden könnten, will das Land verhindern. Ebenso der mächtige deutsche VW-Betriebsrat, der auf die historischen Wurzeln des Unternehmens verweist und betont, dass Wirtschaftlichkeit und Beschäftigungssicherung seit langem gleichrangige Unternehmensziele seien.

Arbeitsplätze auf der Kippe

Dass es VW in der Vergangenheit stets gelungen sei, Krisen zu bewältigen, beschwören Beteiligte wie das seit 75 Jahren bei Europas größtem Arbeitgeber engagierte Land Niedersachsen auch jetzt. Schlechte Zeiten hat das Unternehmen immer wieder erlebt, so infolge des 2015 aufgeflogenen Dieselabgasskandal, in dem man in Wolfsburg anfänglich gar Gefahren einer existenzbedrohenden Krise sah. Im Zuge des bis dato größten Absatzeinbruchs 1992/93 standen zehntausende Arbeitsplätze auf der Kippe.

Den Kahlschlag verhinderte die Einführung einer Viertage-Woche, die mit einem Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung für alle VW-Mitarbeiter verbunden wurde. Der damalige Betriebsratschef Bernd Osterloh sagte 2014 in einem „WAZ“-Interview, der Vertrag schütze „unsere Arbeitsplätze im Falle einer Krise“, sei „nicht mehr wegzudenken“ und habe „dieselbe Bedeutung wie der Euro-Rettungsschirm“. Nun wurde er gekündigt.

Wütender Betriebsrat

Seitdem ist die Aufregung groß. Die seit 2021 amtierende Gesamtbetriebsratsvorsitzende Daniela Cavallo spricht von einer „Bankrotterklärung“ des Vorstands, der seinen Job nicht mache. Dieser wird sich indes in Verhandlungen mit der Arbeitnehmerseite auf Kompromisse kaum einlassen können, die das seit langem virulente Problem der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit bei Volkswagen nicht zügig und dauerhaft beheben.

Ob das Kräftemessen zu einem Ergebnis führt, das eher den Strukturen des in besonderem Maße mitbestimmten Unternehmens entspricht, oder zu einer betriebswirtschaftlich ausreichenden Lösung, wird nicht nur Beschäftigte an den deutschen VW-Standorten betreffen. Das Resultat der Restrukturierungsvereinbarungen werde auch über die Zukunft von Daniela Cavallo und Oliver Blume entscheiden, führt die „Financial Times“ den Jefferies-Analysten Philippe Houchois an.

Governance-Anomalie

Die seit mehr als zwei Jahren geäußerte Forderung von Investoren, Blume müsse eine der beiden Rollen an der Spitze des VW-Konzerns und der seit 2022 ebenfalls börsennotierten Sportwagentochter Porsche aufgeben, wird lauter. Wie könne Blume beide Jobs richtig ausüben, wenn die Autoindustrie sich in einer strukturellen Krise befinde, fragt etwa Ingo Speich, Leiter Nachhaltigkeit und Corporate Governance bei Deka Investment, in der „Financial Times“. Ähnlich kritisch äußert sich DWS-Corporate-Governance-Experte Hendrik Schmidt, der schon bei vergangenen Hauptversammlungen bemängelte, Volkswagen leiste sich als einziges Börsenunternehmen in Deutschland mit Oliver Blume einen Teilzeit-Vorstandsvorsitzenden und verursache damit „eine besorgniserregende Governance-Anomalie“, die maximal temporär zu begründen sei, nicht aber dauerhaft.

Die Anforderungen sind enorm, etwa in China, wo Porsche einer schwachen Nachfrage nach Luxus-Elektrowagen ausgesetzt ist und wo der langjährige Branchenprimus Volkswagen im Zukunftssegment der Stromer der Konkurrenz hinterherfährt. Zugleich gestehen Beobachter dem seit zwei Jahren amtierenden Konzernchef zu, mit seinen Erfahrungen im Mehrmarkenunternehmen aus drei Jahrzehnten nach der Demission von Vorgänger Herbert Diess der Richtige für das Ringen mit der Arbeitnehmerseite zu sein.

Politik gefordert

Da bei der Produktion von Elektrofahrzeugen deutlich weniger Mitarbeiter benötigt würden, erschienen Entlassungen und Werksschließungen fast unausweichlich, schließt die LBBW ihre Branchenanalyse. Die Bank sieht die Politik gefordert, durch Schaffung günstigerer Produktionsbedingungen Einschnitte der Autobauer zu begrenzen. In den Abgesang der deutschen Autoindustrie stimme man nicht ein. Neue Produkte seien auf dem Weg, die Kassen der Konzerne prall gefüllt, und die Innovationskraft der Hersteller sei hoch.